Forschen für die Energiewende

Hochkomplexes, extrem flexibles Versuchsluftversorgungssystem von AERZEN für die Energieforschung. Das Versuchsluftversorgungssystem von AERZEN wird höchsten Anforderungen an Regelbarkeit, Messgenauigkeit, Strömungsqualität, Wiederholbarkeit sowie Konstanz gerecht. Für den Forschungsneubau „Dynamik der Energiewandlung“ an der Leibniz Universität Hannover hat AERZEN ein Versuchsluftversorgungssystem realisiert, das in puncto Präzision, Dynamik, Komplexität und Größe seinesgleichen sucht und die energietechnische Forschung in Garbsen weltweit unter die Top 10 hebt.

Erneuerbare Energien sind die Zukunft. Was das Klima freut, stellt Kraftwerke vor besondere Herausforderungen. Denn Sonne und Wind sind nicht ständig verfügbar, sondern schwanken je nach Wetterlage, Tages- und Jahreszeit. Die Folge: Lastspitzen und Unterversorgungen. Für derartige Fluktuationen sind bestehende Stromerzeugungsanlagen jedoch nicht ausgelegt. Um auch in Zukunft Versorgungssicherheit und Systemstabilität sicherstellen zu können, müssen Kraftwerke dynamischer arbeiten und ein schnelles Anfahr- sowie effizientes Teillastverhalten gewährleisten.


Lösungen für die Energiewende

Doch wie verhalten sich Kraftwerkskomponenten bei wechselnden Lasten? Mit Fragen wie dieser beschäftigt sich das Institut für Turbomaschinen und Fluid-Dynamik (TFD) an der Leibniz Universität Hannover (LUH). Seit September 2019 steht den Wissenschaftlern dafür einer der weltweit modernsten Standorte zur Verfügung: Der Forschungsneubau „Dynamik der Energiewandlung“ (DEW) des gleichnamigen Forschungsverbunds beheimatet auf circa 2.000 m² eine Reihe von Prüfständen für Experimente an Turbomaschinen und Kraftwerkskomponenten wie Motoren, Generatoren, Turbinen, Diffusoren sowie Kompressoren und ermöglicht Versuche bis zu 6 MW. Damit schließt die Einrichtung die Lücke zwischen typischen universitären Laborversuchen, die in der Regel über eine Leistung von lediglich einigen hundert Kilowatt verfügen, und der Erprobung industrieller Prototypen mit vielen hundert Megawatt. Das Gesamtinvestitionsvolumen für den Campus Maschinenbau betrug 175 Millionen Euro.

Energietechnische Forschung auf einem neuen Level

Herzstück des Gebäudes auf dem neu eröffneten Campus Maschinenbau in Garbsen ist die große Verdichterstation der Aerzener Maschinenfabrik GmbH. Die Anlage versorgt die einzelnen Prüfstände mit Druckluft und wird höchsten Anforderungen an Regelbarkeit, Messgenauig-keit, Strömungsqualität, Wiederholbarkeit sowie Konstanz gerecht. „Für die Erforschung der komplexen Strömungsphänomene in Hochleistungsturbomaschinen bedarf es Technologien, die Eintritts- und Austrittsbedingungen sowie Massenströme präzise bereitstellen und wiederholen können. Nur so lassen sich Strömungsgeschwindigkeiten und Stufendruckverhältnisse, wie sie in modernen Turbomaschinen zu finden sind, möglichst realitätsgetreu erzielen“, erklärt Dr. Hans-Ulrich Fleige, Head of R&D bei AERZEN, und ergänzt: „Mit unserem Versuchsluftversorgungssystem können die Prüfstände dynamisch mit nahezu frei wählbaren Lastrampen betrieben und Untersuchungen unter hohen Lastgradienten über weite Betriebsbereiche durchgeführt werden. Zur Erzeugung aerodynamischer Ähnlichkeit zwischen Realität und Modellversuch sind sowohl Mach- als auch Reynolds-Zahl einstellbar – und zwar unabhängig voneinander. Der tatsächliche Betrieb bestehender und zukünftiger Turbomaschinen lässt sich so optimal abbilden.“ Dank der neuen Möglichkeiten gehören das TFD sowie die energietechnische Forschung an der Leibniz Universität zu den Top 10 der weltweit führenden Forschungszentren in diesem Bereich.

Erfolgreiche Premiere: Gebläsespezialist als Anlagenbauer

Seit mehr als 150 Jahren steht der Name AERZEN für innovative, effiziente und exakt auf den jeweiligen Prozess zugeschnittene Kompressortechnologie. Für Garbsen lieferten die Anwendungsspezialisten nicht nur die Gebläse- und Kompressoren-Aggregate, sondern traten erstmals als Anlagenbauer in Erscheinung und waren für Auslegung, Planung, Fertigung, Montage und Inbetriebnahme der Gesamtanlage inklusive der Mess- und Regeltechnik verantwortlich. Federführend war dabei der Geschäftsbereich Sondermaschinenbau (Prozessgase), der in enger Zusammenarbeit mit der LUH und dem TFD die Entwicklung und den Bau betreute. Unterstützt wurden sie dabei von einer Vielzahl externer wie interner Partner, unter anderem Emmerthaler Apparatebau, Kratzer Automation, AERZEN After Sales Service und der AERZEN Entwicklungsgruppe.


Maximum an Präzision und Flexibilität

Das Versuchsluftversorgungssystem (Gesamtabmessungen: 82 x 15 x 9 m) umfasst eine Kompressorstation mit einer mehrstufigen Verdichtung, einen kaskadierten Bypass zur Feinregelung des Massenstroms, eine zentrale Massenstrommessstrecke, ein Luftverteilsystem zu und von den Prüfständen inklusive Rohrleitungen, Ventilen, Schalldämpfern, Kühlern, Beruhigungskammern und unterstützender Stahlbaukonstruktion sowie eine ausgeklügelte Steuerung zur Auswahl verschiedener Betriebsarten, -typen, -konfigurationen und Prüfstandseintrittsbedingungen.

Die Prüfstände arbeiten mit Expansionsverhältnissen zwischen 1 und 6. Der Eintrittsdruck reicht dabei von 1 bis 8 bar (abs) bei einem maximalen Massenstrom von 25 kg/s (90.000 kg/h). Unter allen Bedingungen können die Eintrittstemperaturen zwischen 60 und 200 °C geregelt werden. Die Anlage lässt sich sowohl im offenen als auch geschlossenen Regelkreis betreiben, ist für den stationären sowie transienten (± 30 % des maximalen Volumenstroms pro Minute) Betrieb ausgelegt und kann entweder druck- oder massenstromgesteuert agieren. Volumenstrom, Temperatur und Druck sind frei definierbar und lassen sich unabhängig voneinander regulieren. Neben der gewünschten Flexibilität und Dynamik trieben insbesondere die extremen Genauigkeitsanforderungen die AERZEN Ingenieure zu technischen Höchstleistungen an. So beträgt die Abweichung des Volumenstroms gerade einmal 0,015 m³/s – und das bei einem effektiven Maximalwert von bis zu 80.000 m³/s. Der mittlere statische Druck ist bis auf 0,5 Millibar genau einstellbar und die mittlere statische Temperatur schwankt maximal um 0,3 K, um nur einige Beispiele zu nennen.


Aus 1 mach 5

Auch die zentrale Massenstrommessung sucht mit einer Gesamtunsicherheit von lediglich 0,55 Prozent ihresgleichen. „Die Regelanforderungen waren höher als die Ungenauigkeiten normaler Messtechnik“, betont Jens-Olaf Wittenberg, Projektmanager Supply Process Gas bei AERZEN. Über einen Diffusor wird die Versuchsluft aus der Zuleitung in DN 700 auf fünf parallele Ultraschallgaszähler (4 x DN 500 und 1 x DN 200) verteilt. Die Anzahl der aktiven Leitungen hängt von der Durchflussmenge ab und wird automatisch von der Steuerung geregelt, sodass alle Gaszähler mit geringster Messunsicherheit betrieben werden. Um eine gleichmäßige Verteilung der Strömung auf die einzelnen Messstrecken sowie gleichmäßige Geschwindigkeitsprofile an den Gaszählern zu erreichen, wurden den einzelnen Gaszählern Strömungsgleichrichter vorgeschaltet und der Diffusor einschließlich der vorgelagerten Rohrbögen strömungssimuliert. Zusätzlich sind Wirbelgeneratoren am Diffusoreintritt sowie spezielle Komponenten zur Reduzierung der Austrittsfläche angebracht. Notwendig wurde die Aufsplittung der Massenstrommessstrecke aufgrund der Größe des Projekts. „Es gab schlicht keinen transportfähigen Gaszähler in DN 700 für die vom TFD gewünschte In-situ-Kalibrierung“, so Jens-Olaf Wittenberg.

Mehrstufige Verdichtung

Die thermodynamische Aufbereitung der Versuchsluft erfolgt in der Kompressorstation (Gesamtgröße: 27 x 15 x 9 m). Diese verwendet als erste Stufe zwei parallel geschaltete Roots-Gebläse vom Typ GM 20.20 mit jeweils einem Eintrittsvolumenstrom zwischen 9.600 und 48.600 m³/h und einer maximalen Druckdifferenz von 0,8 bar (Eintrittsdrücke zwischen 0,2 und 3,5 bar, max. Austrittsdruck): 4,3 bar). Als zweite Stufe sind zwei parallel geschaltete Schraubenverdichter vom Typ VRa 736 S mit einem Eintrittsvolumenstrom zwischen 6.900 und 21.600 m³/h und einer maximalen Druckdifferenz von 10 bar (Eintrittsdrücke zwischen 0,2 und 3,5 bar, max. Austrittsdruck: 9 bar) installiert. Alle vier Maschinen werden von separaten Elektromotoren (690 V) mit Drehzahlregelung angetrieben und können mit variablen Geschwindigkeiten im Einzel- oder Tandembetrieb betrieben werden. „Durch den modularen Aufbau ist die Verdichterstation extrem flexibel und hat einen außerordentlich großen Regelbereich“, macht Dr. Hans-Ulrich Fleige deutlich und erklärt: „Niedrige Drücke werden von den Drehkolbengebläsen übernommen, für mittlere Drücke gehen die Schraubenverdichter an den Start, und hohe Drücke lassen sich mit einem zweistufigen Betrieb von Gebläse und Schraubenkompressor erreichen.“

Ein besonderes Augenmerk hat AERZEN auf den Schallschutz gelegt. Alle vier Verdichter verfügen über zwei reaktive Schalldämpfer, die Drehkolbengebläse sind zusätzlich mit zwei Lambda-Viertel-Resonatoren ausgestattet. So werden auftretende Pulsationen und deren Auswirkungen weitgehend reduziert. „Aus dem großen Regelbereich resultiert ein enorm breites Frequenzspektrum. Dieses schalltechnisch in den Griff zu bekommen, war schon eine kleine Herausforderung“, gesteht Dr. Hans-Ulrich Fleige. Um auch die umliegenden Forschungsgebäude zu schützen, in denen unter anderem hochempfindliche Beschleunigungs- und Schwingungsuntersuchungen durchgeführt werden, wurde das Maschinenfundament von dem des Kompressorraums vollkommen entkoppelt.


Perfektion bis ins kleinste Detail

Eine Besonderheit der Anlage ist, dass sie vollständig in ein bestehendes Gebäude integriert wurde. Die Herausforderung bestand darin, mit dem knappen Platzangebot und der bereits feststehenden Statik des Gebäudes umzugehen. So wurden unter anderem rund 190 Tonnen Stahl verbaut, um die entstehenden Kräfte ableiten zu können. Zudem wurden so gut wie alle Komponenten und Bauteile der Anlage speziell entworfen und angefertigt – angefangen von der Massenstrommessstrecke über den Diffusor bis hin zu den Beruhigungskammern vor einzelnen Prüfzellen. Auch die Rohrleitungen – insgesamt gut 500 Meter (von DN 200 bis DN 1000) – sowie die meisten Rohrbögen sind alles andere als Standard. Aufwendige Strömungssimulationen sowie ein verbesserter Korrosionsschutz dank Verzinkung sind nur einige Punkte, die hier den Unterschied machen.

Der zweijährigen Aufbauphase ist eine mehrjährige Planungsphase der Ingenieure aus AERZEN und Hannover vorausgegangen. Aufgrund der hohen Vorgaben in puncto Stabilität und Reproduzierbarkeit der Versuchsluft wurde zur Erprobung und Vorabtestung der Mess- und Regelungstechnik ein voll funktionsfähiges skaliertes Funktionsmodell mit einer Leistung von 300 kW gebaut. „Wir verfügen über sehr viele Jahre Erfahrung im Bereich Prozessgastechnik, aber dieses Projekt war etwas Besonderes – und zwar nicht nur aufgrund seiner Größe und Komplexität“, so Jens-Olaf Wittenberg.

„Erstmals konnten wir unsere Anlagenbaukompetenz im Bereich der Sondermaschinen unter Beweis stellen, und das gleich bei einem Vorhaben dieser Größenordnung. Immerhin handelt es sich um den größten Inlandsauftrag unserer Unternehmensgeschichte.“

Den First Run startete Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil bei der Campus-Einweihung im September 2019, die finale Inbetriebnahme folgt im Jahr 2020.